Tag 6: 140 km zum Ziel
Morgens bekommen wir auf Anfrage noch einen kleinen Kaffee und verabschieden uns. Die Schwarzwirtin bittet uns, die Fahrräder so schnell wie möglich aus der Haustür zu schieben und dann rasch davonzufahren, damit möglichst niemand mitbekommt, dass wir bei ihr genächtigt haben. Da es kein Frühstück gab und wir uns heute eine Etappe von schätzungsweisen 140 Kilometern vorgenommen haben, suchen wir erstmal in Santa Cruz nach etwas Essbarem.
Wir finden auch gleich einen Stand, es gibt frittierten frischen Fisch in knuspriger Panade in geröstetem Brot, für 10 Pesos Moneta national das Stück, das sind umgerechnet 30 Cent. Der Fischverkäufer steht mit Mütze und Jacke hinter seinem kleinen mobilen Verkaufswagen. Das kalte Wetter ist offenbar Tagesgespräch, „mucho frio“, stöhnt seine Kundschaft. Wir finden die Temperatur von 14 Grad morgens um 8 Uhr ganz gut für die lange Strecke, immerhin regnet es ja nicht.
Tatsächlich kommen wir flott voran, der Wind bläst mal von hinten und dann wieder von der Seite, schon um halb zwölf liegen die ersten 50 Kilometer hinter uns. Mittags genehmigen wir uns in St José eine Pizza am Straßenstand. Sie hat rund 15 Zentimeter Durchmesser, ist recht lecker und kostet, zahlbar mit lokalen Pesos, wieder umgerechnet 30 Cent.
Die Route ist weniger abwechslungsreich als gestern. Oft geht es auf schnurgerader Straße hügelauf und wieder hügelab. Die Abfahrten verlangen uns einiges an Konzentration ab. Schnell erreichen wir Geschwindigkeiten nahe oder über 50 Stundenkilometer und müssen höllisch aufpassen, dass wir dabei kein Schlagloch übersehen. Vorsichtigere Fahrweise und Bremsen während der Talfahrt würde uns den Schwung kosten, den wir für den folgenden Anstieg nutzen wollen. Rechts und links der Straße befinden sich steppige Wiesen mit einzelnen Palmen. Wir passieren eine kommunale Müllhalde, auf der stinkender Abfall verbrennt und uns in dichte Rauschwaden hüllt.
Ab und an müssen wir Bahnschienen überqueren, von denen wir nicht wissen, ob sie noch in Betrieb sind. Einmal nähert sich von links laut tutend ein Wartungsfahrzeug der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Paul hat Reggae auf seinen Kopfhörern und hört weder das Tuten noch meine Warnrufe von hinten. Keine 100 Meter bevor die die Lokomotive den unbeschrankten Bahnübergang erreicht, passiert er die Schienen.
„Das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet“ kommentiert er den Beinahe- Zusammenstoß.
Die Bahnarbeiter winken von der Lok, alles noch einmal gut gegangen. Nach 90 Kilometern beginnt mein Hintern weh zu tun und im Nacken spannt es. Paul spürt seine Beine und Schultern. Ich bin beruhigt, dass auch er mit seinem durchtrainierten Körper die Marathon-Etappe nicht völlig schmerzfrei absolviert.
Hinter San Antonio de los Banos geht es kaum merklich aber unbarmherzig bergauf. Dann wird es wieder abwechslungsreicher und hügelig, Kuba präsentiert sich ab hier wieder in sattem Grün. Kurze Bergetappen, dann wieder entspanntes Rollen und die schöne Landschaft lassen uns den toten Punkt von eben vergessen. Unser Ziel ist Las Terassas, ein ökologisches Vorzeigedorf. Die vor langer Zeit angelegte Terrassenlandschaft verfiel über die Jahre, die Hänge drohten abzurutschen, bis sie von Aktivisten neu bepflanzt wieder reaktiviert wurden.
Wir vermuteten, dass neben dem im Reiseführer beschriebenen Hotel inzwischen noch einige günstige Casa Particulars entstanden sind. Fünf Kilometer vor unserem Ziel auf einmal eine Schranke. Der Pförtner fragt, ob wir eine Reservierung fürs Hotel haben. Wir verneinen, er erklärt uns, dass die Übernachtung 110 Cuc, also knappe 80 Euro kostet, andere Unterkünfte gäbe es nicht. Einzige Alternative: ein paar Casa Particulars, die wir rund 7 Kilometer vorher passiert haben.
Oder wir umfahren Las Terrassas, nehmen die Autopista am Fuß der Berge und schwenken dann wieder bergan zur Ortschaft Soroa, das wären weitere 20 Kilometer. Da bald die Dämmerung einsetzen wird, erscheint ein Kurzbesuch in Las Terassas gegen Eintritt und ohne Übernachtung im teuren Hotel sinnlos. Ich schlage vor, zu den empfohlenen Casa Particulars zurückzufahren und am nächsten Morgen nach Las Terassas zu radeln. Paul fährt grundsätzlich niemals einen Weg zurück und will nach Soroa. Wie so oft setzt er seine Meinung durch.
In rasantem Tempo verlieren wir die mühsam gewonnen Höhenmeter, radeln dann rund 12 Kilometer auf der spärlich befahrenen Autobahn, was in Kuba ganz normal ist. Dann wieder ein schweißtreibender Anstieg. Zum Sonnenuntergang finden wir nach kurzer Suche eine angenehme Casa Particular. Schräg gegenüber befindet sich ein Devisenshop-Container, der für einen Cuc pro Flasche kaltes Bier vorrätig hat, was mich wieder versöhnt. Die Wirtin kocht uns schmackhaftes Huhn mit Reis und einer deftigen Brühe, am Ende fallen wir nach 154 Fahrkilometern müde ins Bett.
Tag 7: traumhafter Blick über den Jungel
Heute wollen wir den Besuch in Las Terassas nachholen. Dafür müssen wir weiter in die Berge und über eine kurvige Straße mit vielen Steigungen wieder knappe 20 Kilometer in die Richtung fahren, aus der wir gestern gekommen waren. Es ist immer noch recht kühl und der Wind bläst uns ins Gesicht. Immerhin verspricht der Reiseführer einige Attraktionen entlang der Strecke dorthin.
Schon nach zwei Kilometern steigen wir von den Rädern und machen uns zu Fuß auf den Weg zu einem Wasserfall. Es geht auf einem gut befestigten Weg durch Dschungelvegetation.
Zwar sehen wir nicht die Niagarafälle und auch nicht die Cascaden von Iguacu, aber das Wasser rauscht gute 20 Meter in die Tiefe und der Ort ist einfach wunderschön und erholsam und es sind auch nur eine Handvoll anderer Besucher da. Paul kauft eine Kokosnuss, die Kokosmilch im Inneren wird mit einer kräftigen Dosis Rum angereichert, dazu gibt es Bananen und Mandarinen.
Wir sitzen bestimmt zwei Stunden an diesem paradiesischen Ort. Die Lust auf zweimal 20 Kilometer steile Berg- und Talfahrt zum bestimmt sehr touristischen Las Terassas schwindet immer mehr. Und nach der gestrigen 150-Kilometer Etappe haben wir uns einen faulen Tag verdient. Einige hundert Meter oberhalb vom Wasserfall kehren wir dann in einem Restaurant ein und rechtfertigen die neuerliche Pause damit, dass man ja Aktivität in der prallen Mittagssonne vermeiden sollte. Nachmittags folgt dann noch ein kurzer Anstieg zum Kastell oberhalb von Soroa. Spannend ist eine kleine schlossartige Ruine, die früher ein Restaurant beherbergte.
Wir klettern durch die verlassenen Räume, steigen über eine gewundene Treppe in den ersten Stock und genießen den morbiden Charme mit traumhaftem Ausblick. Das eigentliche Kastell mit kleiner Bar einige hundert Meter weiter ist weniger beeindruckend. Auf dem Rückweg entdecken wir einen unbefestigten aber recht breiten Weg und probieren einfach aus wo er hinführt. Es geht steil bergan, nach einer Weile schieben wir die Fahrräder seitlich ins Gebüsch und gehen zu Fuß weiter. Kein Mensch weit und breit, schließlich eine weitere Abzweigung, die noch weiter bergauf führt.
Palmenstämme liegen im Weg, dann ist ein Stacheldrahtzaun quer über die verwilderte Schneise gespannt. Wir klettern seitlich vorbei, steigen noch höher und landen schließlich auf dem plateauartigen Gipfel eines Berges. Hier steht ein verlassener Bungalow mit einer dünnen riesigen verrosteten Funkantenne auf dem Dach. Es gibt noch einige kleine Nebengebäude, die wir ebenfalls erkunden.
Paul balanciert auf den stehengebliebenen Mauern einstiger Wirtschaftsgebäude, pflückt saure Orangen, der Ort ist ziemlich spooky. Dazu heult der Wind aus dem Tal nebenan.Als wir die am Wegesrand geparkten Räder wieder erreichen, ist mein Vorderrad platt. Um unsere Gefährte vor neugierigen Blicken zu schützen hatten wir sie zu weit ins dornige Gebüsch geschoben. Zum Glück hatte ich morgens eine Luftpumpe eingepackt und so schaffe ich den Rückweg mit zweimaligem Aufpumpen. Paul lästert beim Reifenwechsel in unserer Pension über meine unprofessionellen Handgriffe, hilft mir schließlich aber doch. Später gibt es dann leckeren Fisch.
Tag 8: Entlang des Stausees
Für kubanische Verhältnisse ist es immer noch sehr kühl, besonders nachts. Wir stehen früh auf, weil wir ins hundert Kilometer entfernte Städtchen Pinar del Rio wollen. Die Pensionswirtin fröstelt und kann es gar nicht fassen, dass Paul mit freiem Oberkörper aufs Rad steigt. Dank unserer Navigationstechnik können wir schon nach einigen hundert Metern die Hauptstraße, die von Soroa wieder zur Autopista führt, verlassen und biegen auf eine asphaltierte Nebenstrecke ein.
Ein paar Kilometer weiter erreichen wir einen Stausee, unser Schleichweg verwandelt sich in einen Feldweg und wir müssen ziemlich abenteuerlich den zum Glück weitgehend ausgetrockneten Abfluss des Stausees queren. Immerhin haben wir ein paar Kilometer gespart, als wir die Kleinstadt San Antonio erreichen. Von dort geht es mit Rückenwind immer geradeaus auf einer sonntäglich ruhigen Landstraße bis Pinar del Rio. Dachten wir jedenfalls, aber diesmal spielt uns das detaillierte Kartenmaterial auf dem I-Pad einen Streich.
Wir hatten uns bereits gewundert, dass die ursprünglich gut ausgebaute Straße nach einer Ortsdurchfahrt immer schmaler wurde, teils zugewuchert von Gebüsch und Gestrüpp. Auf einmal endet der immer noch asphaltierte Pfad im Wasser eines Stausees. Einige Kubaner sind damit beschäftigt, zwei Uralt-LKWs zu waschen. Offenbar ist Autowaschen auch in Kuba eine typische Sonntagsbeschäftigung und die Stelle, an der die Straße vom steigenden Wasser des Stausees überflutet wird ist einfach ideal dafür.
Wir müssen also umkehren und wieder in den letzten Ort zurück. Dort treffen wir eine Gruppe von rund 15 süddeutschen Radfahrern, die meisten zünftig im wurstpelligen und quietschebunten Radlerdress, aber ohne Gepäck. Ihr Begleitbus steht ebenfalls an der Kreuzung. Sie sind mit dem Veranstalter Aventura unterwegs.Heute ist einer von ganzen zwei Radfahrtagen auf ihrer Kuba-Rundreise. Der Reiseleiter empfiehlt uns, den neuen Stausee nördlich über den kubanischen Kurort San Diego de los Banos zu umfahren. Ich freue mich sogar ein wenig über den erzwungenen Umweg. Unser Lonely Planet Reiseführer hatte den Eindruck verfallener Mondänität erweckt, gleichwohl aber bestätigt, dass hier immer noch gebadet und gekurt wird. Ein vom Staatssozialismus übernommenes Baden Baden in den karibischen Bergen, so male ich mir das Städtchen aus. Jetzt wollen wir dort Mittag essen. Umso größer die Enttäuschung. Es gibt zwar zwei heruntergekommene Hotels, aber kein einziges geöffnetes Restaurant. Der Ort, kaum größer als ein Dorf, liegt in sonntäglicher Lethargie. Immerhin treffen wir jemanden, der recht gut Englisch spricht – in 17 Kilometer Entfernung gäbe es ein „privates“ Restaurant, das auch am Sonntag geöffnet hätte. Wir fahren also weiter, in der klaren trockenen Luft brennt die Sonne besonders intensiv auf uns herab.
Der empfohlene Ort wirkt ebenso verschlafen. Bei einem einsamen Straßenverkäufer bekommen wir eine Papaya und die Auskunft, dass auch hier kein Restaurant geöffnet habe. Wir verzehren die Frucht im Schatten der Dorfkirche. Der Pfarrer kommt heraus, ist überschwänglich freundlich, fragt sogleich, ob ich an Gott glaube und als ich das nicht eindeutig bejahe, will er zu einem Bekehrungsgespräch ausholen.
Zum Glück stehen noch einige weitere Gemeindemitglieder vor der Kirche, die ebenfalls seine Fürsorge beanspruchen. Wir wollen schon einen längeren Umweg zur Autopista einschlagen, um unseren Hunger an einer Raststätte zu stillen. Schließlich frage ich doch noch zwei Passanten. Ein vieleicht 11jähriger Junge schaltet sich in tadellosem Englisch ein und führt uns tatsächlich zu einem geöffneten Restaurant. Auf dem Weg frage ich ihn, wieso er so gut Englisch kann. Er erzählt, dass er eigentlich in Miami lebt und hier gerade Urlaub macht. Mir war gar nicht klar, dass die Kinder von Exilkubanern aus Florida in der alten Heimat ihre Ferien verbringen können, vielleicht sogar zusammen mit den Eltern.
Ich denke daran, dass wer die DDR einmal verlassen hatte, als Flüchtling oder über einen Ausreiseantrag, dorthin nie wieder zurückkehren konnte. Das gefundene Restaurant ist wohl tatsächlich eine private Einrichtung, wir können mit lokalen Peso zahlen, für den Normal-Kubaner liegen die Preise aber ziemlich hoch. Wir sitzen auf einer Art überdachten Terrasse, zwei Begrenzungswände bestehen aus leichtem Maschendraht, dahinter scharren Hühner in der Erde. So sympathisch wird hier die Frische der angebotenen Speisen präsentiert. Die vielen Fliegen stören uns kaum. Und unsere Tischnachbarn versorgen uns mit Rum.
Gesättigt und vom Alkohol beschwingt legen wir die letzten 30 Kilometer bin Pinar del Rio zurück. In der vom Reiseführer empfohlenen Casa Particular ist tatsächlich ein Zimmer frei. Nach 110 Kilometern laden wir unsere Satteltaschen ab, duschen und starten noch zu einem Rundgang durch das Städtchen. Paul findet ein Hotel, das über ein Internet-Terminal verfügt. So kann er seiner Freundin einen längeren Reisebericht erstatten. Ich finde es gut, dass ich fünf Wochen überhaupt kein Internet habe und bummele in der Zwischenzeit durch die Straßen.
Später essen wir gemeinsam in einem ausschließlich von einigen Kubanern besuchten staatlichen Restaurant. Es heißt El Marino, die Wände sind tiefblau gestrichen, es gibt ein paar eigentlich funktionslose Fenster im Bullaugendesign, die zu irgendwelchen Nebenräumen führen, ein recht freudloses Aquarium mit ein paar lebenden Fischen und einen stilisierten großen künstlichen Fisch, der von einer Wand auf die Gäste schaut. An der Hälfte der Tische stehen keine Stühle. Dafür wieseln ziemlich viele Kellnerinnen im knappen schwarz weißen Dress herum.
Kaum haben wir unsere Bestellung aufgegeben bekommen wir unsere Teller mit zwei kleinen gebratenen Barschen und erstaunlich würzigem Reis. Beim Servieren schauen die Kellnerinnen so freundlich wie eine Traktoristin bei der Feldarbeit. Beim Abräumen sind sie noch schneller, die halb aufgegessene würzige Reisbeilage verschwindet so geschwind dass wir noch nicht einmal protestieren können. Am Ende bestellen wir noch ein ziemlich ekelhaftes Dessert aus Caramelsoße und einem Stück Weichkäse. Der Preis für die staatliche Mahlzeit ist lächerlich niedrig.
Tag 9: Aufenthaltsverlängerung beantragen in Kuba
Heute steht ein Behördengang auf dem Programm. Unsere sogenannte „Touristenkarte“ gilt nur für 30 Tage, unser Rückflug ist aber für den 35. Tag gebucht. Also müssen wir eine „Proroga“, eine Aufenthaltsverlängerung, beantragen. Die deutsche Bearbeiterin in der kubanischen Botschaft in Berlin hatte uns geraten, dies sehr rechtzeitig zu tun und noch hinzugefügt:
„Rechnen Sie mit Widerstand“.
Die zuständigen Ämter gibt es nur in den Provinzhauptstädten. Die Gebühr von 25 Cuc, umgerechnet etwa 18 Euro kann nicht bar bezahlt werden, wir müssen also zuerst Gebührenmarken besorgen. Der Sohn unserer Pensionswirtin bietet an, uns zu helfen. Er ist 41 Jahre alt, wirkt geistig irgendwie etwas zurückgeblieben, spricht aber erstaunlicherweise recht gut Englisch. Erst bringt er uns wegen der Marken zur Post, dann in eine Bank, jedes Mal vergebens.
In den ziemlich noblen Räumen der Royal Bank of Canada haben wir schließlich Glück. Dann geht es zur „Immigration de Extranjero“. Das Gebäude ist eigentlich eine Art Bürgeramt. Drinnen ist die Hölle los. Zu den Aufgaben der Behörde gehört auch die An- und Abmeldung von Kraftfahrzeugen. Wir sehen Kubaner mit Auto-Nummernschildern unterm Arm, draußen vor dem Gebäude war uns bereits aufgefallen, dass am Straßenrand ein privater Automarkt stattfindet. Inmitten des Gewusels sitzt an einem einfachen Klapptisch eine rundliche Schwarze, die mit unglaublicher Engelsgeduld verschiedenste Fragen beantwortet und sich auch nicht daran stört, dass sich in eine laufende Auskunftserteilung mindestens zwei weitere Antragsteller einschalten.
Jöel, so heißt der Sohn der Pensionswirtin, sorgt dafür, dass auch unser Anliegen bei ihr Gehör findet. Wir sollen kurz warten, dann steht sie von ihrem Klapptisch auf und bringt uns in einen Hinterraum, genauer gesagt in einen schmucklosen engen Korridor mit 3 Sitzen für Wartende.
Vor uns ist noch eine Französin mit ihrer kubanischen Freundin dran. Ein schmalbrüstiger Offizier mit Schnauzbart in olivgrüner Uniform erklärt der Französin, dass ihre Papiere unvollständig seien. Dann mustert er unsere Pässe, verlangt eine Bescheinigung, in welcher Casa Particular wir wohnen und unsere Auslands-Krankenversicherung. Ersteres lässt sich recht problemlos lösen, wir holen Joel, der im überfüllten vorderen Warteraum zurückgeblieben ist. Er zeigt seinen Ausweis und bürgt für uns.
Die Versicherungspolicen, die wir glücklicherweise vor unserem Flug nach Kuba in spanischer Übersetzung angefordert hatten, liegen dummerweise in der Pension. Paul bricht auf um sie zu holen, ich warte weiter auf dem Korridor. Nach einer reichlichen Viertelstunde ist Paul mit Jöel wieder zurück. Der Offizier schaut die Policen an, zusammen mit einem Kollegen, sagt dann „un momento“, schließt sein Büro ab und verschwindet. Wir warten wohl eine halbe Stunde, dann kehren die beiden zurück. Die Bürotür bleibt offen, Jöel begrüßt einen weiteren Offizier mit Handschlag, sagt, „ein Freund meiner Eltern“.
Im Büro wird telefoniert. Ich glaube zu hören, dass er der „Sechzehnte“ erwähnt wird, das wäre auch der Tag an dem unsere Krankenversicherung ausläuft und der Rückflug gebucht ist. Vielleicht geht es um uns, vielleicht auch nicht. Nach einer weiteren halben Stunde winkt uns der Offizier herein. Die Proroga ist ein Aufkleber, der hinten auf der Touristenkarte angebracht wird. Kuba stempelt die Pässe nicht ab wie andere Länder, stattdessen gilt die Touristenkarte mit eigetragener Passnummer als Visum.
Zuerst bin ich dran. Der Offizier verwahrt die begehrte Proroga in der Brusttasche seiner Uniform, trägt jetzt Passnummer und den neuen letzten Tag der Aufenthaltsgenehmigung ein und füllt ein ganzseitiges Formular aus. Er durchsucht die Schubladen seines Schreibtisches, dann die seines Kollegen. Ich vermute, dass er nach einem amtlichen Stempel fahndet. Dann verschwindet er und kommt mit einem kleinen Fläschchen und einem Strohhalm zurück. Mit dem Halm fischt er einige Leimtropfen aus der Flasche und klebt die Gebührenmarken auf das Formular. Schließlich übergibt er mir die Touristenkarte mit dem Verlängerungsaufkleber auf der Rückseite und bedeutet mit einem Wink, dann ich das Büro nun verlassen soll.
Von draußen beobachte ich, wie sich die ganze Prozedur für Paul wiederholt. Nach zwei Stunden stehen wir wieder draußen in der kubanischen Sonne. Jöel hatte uns mehrfach zwischen seinen manchmal wirren Erzählungen um ein Geschenk geben, zwei, drei oder fünf Euro, die wären härter als der kubanische Cuc, aber bitte nicht in der Pension, damit seine Eltern nichts mitbekommen. Ich drücke ihm einen Fünf-Euro-Schein in die Hand, er ist überglücklich.
Paul ist angesichts des kleinen Automarkts vor dem Amtsgebäude schon bei seiner nächsten Geschäftsidee. Man könnte die super gepflegten Oldtimer-Ami-Schlitten doch exportieren und teuer verkaufen und die kubanischen Besitzer dafür mit viel neueren, sparsamen und wartungsarmen Gebrauchtwagen versorgen, jetzt wo Fahrzeugimporte möglich sind.
Jöel fragt für uns nach dem Kaufpreis für einen der angebotenen Oldtimer. 18.000 Cuc möchte der Besitzer für den blitzenden Straßenkreuzer haben, das sind ca. 14.000 Euro. Am Nachmittag besichtigen wir noch eine kleine Kunstgalerie und die Zigarrenfabrik von Pinar del Rio. Jede Zigarre wird von Hand gerollt. In Fünferreihen sitzen rund 80 Arbeiter und Arbeiterinnen hintereinander, 135 Zigarren pro Tag ist die Norm. Mit einem runden Schneidmesser und viel Geschick entstehen aus ein paar getrockneten Tabakblättern die kostbaren Rauchwaren. Zur Unterhaltung der Belegschaft scheppert dröhnende Musik aus altersschwachen Lautsprechern.
Kurz nach vier verabschieden wir uns von der Pensionswirtin und von Jöel und radeln über den erstaunlich harmlosen Pass nach Vinales. Es geht zwar recht steil bergan, trotzdem haben wir die 27 Kilometer innerhalb von zwei Stunden geschafft. Kurz vor der Abfahrt ins Tal befindet sich ein Restaurant mit Panoramablick.
An der Zufahrt zum Parkplatz haben die Betreiber einen weißen Ochsen mit Ledersattel aufgestellt, er erinnert ein wenig an die elektrischen Riding Bull Jahrmarktsattraktionen. Paul will, dass ich für ein Foto auf den Ochsen klettere. Der Ochse ist ziemlich groß. Ich überlege wie ich hinaufkomme, entdecke dabei einen Steigbügel und gehe frohen Mutes drauflos.
Auf einmal dreht der Ochse seinen Kopf in meine Richtung. Mich trifft fast der Schlag – der Ochse, der die ganze Zeit ganz still und künstlich dastand ist lebendig! Im gleichen Moment kommt ein wettergegerbter alter Campesino auf uns zu und ermuntert mich, auf den Ochsen zu steigen, der wäre „muy tranquilo“, sehr ruhig. Also erklimme ich das mächtige Tier, der Campesino setzt mir seinen Cowboyhut auf und dreht mit mir und dem Ochsen eine Runde über den Parkplatz.
Unsere Pensionswirtin hatte uns beim Abschied noch eine Adresse in Vinales empfohlen, und tatsächlich entspricht die neue Bleibe voll unseren Erwartungen. Angeschlossen ist ein kleines Restaurant. Wir tafeln recht fürstlich.
Katrin aus Stralsund, die seit gut drei Wochen alleine in Kuba per Rad unterwegs ist, gesellt sich zu uns. Bis nachts um eins trinken wir und erzählen von unseren Erlebnissen.
Tag 10: Kalksteinfelsen im Tal von Vinales
Das Tal von Vinales wird von schroffen, bis zu 600 Meter hohen Kalksteinfelsen eingerahmt. Auch innerhalb des Tals ragen markante Kalksteinhöcker bis zu 250 Meter empor. Dazwischen fruchtbare Wiesen und Felder, Gebüsch und kleine Wälder. Morgens brechen wir mit Katrin zu einem riesigen prähistorischen Felsgemälde auf, das gar nicht mehr so prähistorisch ist, da es alle Naselang nachgemalt wird, um die Besucher schon von weitem zu beeindrucken.
Deswegen reicht uns auch ein Foto mit Teleobjektiv-Einstellung, wir sparen uns den Eintritt und das gemeinsame Staunen mit einer Busladung von Touristen. Wir schlagen alle Angebote geführter Wanderungen aus und versuchen auf eigene Faust an den Fuß der Felsen zu gelangen und vielleicht sogar einen Weg hinauf zu finden.
Der eingeschlagene Trampelpfad wird immer enger. Wir schließen die Räder an und kämpfen uns durchs Gebüsch. Fünf kleine schwarze Ferkel laufen uns nach und posieren wie ein Revueballett. Katrin hat irgendwann genug vom unwegsamen Pfad mit den vielen kleinen Kletten, die sich in unsere Kleidung krallen.
Sie kehrt um, während Paul und ich ins Bett eines Baches absteigen und versuchen auf diese Art weiterzukommen. Wir waten etwa eine halben Kilometer durch Schlamm, rutschen und balancieren über Steine, und kehren schließlich ebenfalls um. Nachmittags fahren wir mit den Rädern durchs hügelige und fruchtbare Tal ins 18 Kilometer entfernte Örtchen El Moncada, am Wegesrand grasen Pferde und Ochsen.
Bei El Moncada besichtigen wir die Sant Tomas Höhle, die größte Grotte Kubas und im gesamt-lateinamerikanischen Höhlen-Ranking auf Platz drei. Anders als in Matanzas gibt es keine elektrische Beleuchtung und keinen betonierten Spazierpfad. Wir bekommen Helme mit vorne eingebauten Grubenlampen. In weiser Voraussicht hatte ich noch zwei helle Taschenlampen eingepackt. Zusammen mit unserem ziemlich humorvollen kubanischen Guide und vier Franzosen klettern wir über steile Gefälle und Steigungen und durch enge Spalten.
Immer wieder tun sich in der Finsternis beeindruckende Kavernen auf, mit gewaltigen Tropfsteinformationen. Salzkristalle funkeln im fahlen Licht der Grubenlampen. Besonders faszinierend ist eine Reihe hängender Tropfsteine. Sie sehen wie ein Vorhang aus umgedrehte Orgelpfeifen aus, schlägt man mit den Fingern dagegen, geben die hohlen Mineralformationen unterschiedlichste Töne von sich, ein unterirdisches Schlagzeug, mit dem jeder ein frei komponiertes Percussion-Solo hinlegt.
Zurück in Vinales organisieren wir unsere Weiterfahrt. Am nächsten Morgen wollen wir ins 400 Kilometer entfernte Trinidad. Voraussetzung ist natürlich, dass wir die Fahrräder mitnehmen können. Ein Taxifahrer bietet uns den Transfer zum gleichen Preis an, den auch die Touristenbusse kosten, morgens um halb zehn will er uns abholen.